Das evolutionäre Paradoxon

Fast alle Tiere produzieren ihr eigenes Vitamin C. Der Mensch kann es nicht.
Warum haben wir diese Fähigkeit verloren? Und wie haben wir uns angepasst?

Der genetische Defekt: GULO

Der Grund für unsere Abhängigkeit liegt in einem einzigen, defekten Gen: L-Gulonolacton-Oxidase (GULO). Dieses Gen ist für den letzten Schritt der Vitamin-C-Synthese verantwortlich. Bei Menschen ist es zu einem nicht-funktionalen "Pseudogen" (GULOP) verkommen.

Das Diagramm vergleicht die Anzahl der Exons – die kodierenden Abschnitte eines Gens – zwischen dem funktionsfähigen GULO-Gen der Ratte und unserem defekten Pseudogen. Der massive Verlust an genetischer Information macht eine Produktion unmöglich.

Ein Schicksal, das wir teilen

Der Verlust der Vitamin-C-Produktion ist keine rein menschliche Geschichte. Es ist ein faszinierendes Beispiel für konvergente Evolution, bei der verschiedene Arten unabhängig voneinander die gleiche Eigenschaft verloren haben.

vor ~200 Mio. Jahren

Knochenfische (Teleostei)

Der früheste bekannte Fall. Das GULO-Gen ging bei diesen Fischen vollständig verloren.

vor ~61-63 Mio. Jahren

Primaten (unsere Vorfahren)

Die entscheidende Mutation trat bei den gemeinsamen Vorfahren der "Trockennasenaffen" auf, zu denen auch wir gehören.

vor ~14 Mio. Jahren

Meerschweinchen

Auch sie besitzen, wie wir, ein nicht-funktionales GULO-Pseudogen.

Rezent

Fledermäuse & Vögel

Bei einigen Arten dieser Gruppen ist das Gen ebenfalls verloren gegangen, bei manchen sogar reaktiviert worden, was seine evolutionäre Dynamik zeigt.

Warum blieb dieser "Defekt" erhalten?

Die Wissenschaft hat mehrere, sich nicht ausschließende Hypothesen entwickelt, die erklären, warum der Verlust der Vitamin-C-Synthese kein evolutionärer Nachteil war und vielleicht sogar Vorteile bot. Klicke auf eine Hypothese, um mehr zu erfahren.

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Diätetische Fülle

Unsere Vorfahren lebten in einem Paradies aus Früchten. Die Eigenproduktion war unnötig.

Frühe Primatenvorfahren, die in tropischen oder subtropischen Umgebungen lebten, ernährten sich wahrscheinlich von einer Kost, die konstant reich an Vitamin C war (z. B. reichlich Früchte). Unter Bedingungen konstanter und ausreichender diätetischer Aufnahme wäre der Selektionsdruck zur Aufrechterhaltung des endogenen Syntheseweges erheblich reduziert oder eliminiert worden. Eine Mutation, die zum Verlust der GULO-Funktion führt, wäre dann weitgehend neutral, wodurch sie sich durch Gendrift in der Population etablieren könnte. Die Aufrechterhaltung eines komplexen Stoffwechselweges könnte auch mit einem energetischen Aufwand verbunden sein, was seinen Verlust subtil vorteilhaft machen würde.

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Neutrales Merkmal

Der Verlust war unter ausreichender Zufuhr weder schädlich noch vorteilhaft.

Diese Hypothese besagt, dass der Verlust der GULO-Funktion eine neutrale Mutation war. Solange die Art konstant ausreichend Vitamin C aus ihrer Nahrung bezog, führte das Fehlen der endogenen Synthese weder zu einem signifikanten Nachteil noch zu einem Vorteil. Wenn das Merkmal neutral war, konnte es sich durch Gendrift in einer Population ausbreiten, insbesondere während Populationsengpässen. Einige Forschungen legen nahe, dass das GULO-Gen möglicherweise "prädisponiert" ist, im Vergleich zu anderen Genen verloren oder mutiert zu werden, was seine Pseudogenisierung wahrscheinlicher macht.

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Elektronentransfer & Glut-1

Effizientes Recycling von Vitamin C über den Glut-1-Transporter.

Diese Hypothese schlägt eine nachfolgende Anpassung vor, die die Vitamin-C-Abhängigkeit effizienter machte. Sie konzentriert sich auf die Rolle des Glukosetransporters 1 (Glut-1), der in roten Blutkörperchen (Erythrozyten) exprimiert wird. Glut-1 transportiert Dehydroascorbat (DHA), die oxidierte Form von Vitamin C, in menschliche Erythrozyten. Dieser Transport erhöht einen intrazellulären Elektronenpool, was ein effizientes Recycling von Vitamin C ermöglicht und den täglichen Bedarf um das bis zu 100-fache reduzieren könnte. Dies wäre ein erheblicher Vorteil während saisonaler Schwankungen der Nahrungsverfügbarkeit oder bei Nahrungskonkurrenz, da es Individuen vor Mangel schützt. Die Glut-1-Expression ist ein einzigartiges Merkmal von Säugetieren, die die AA-Synthese verloren haben.

⚖️

Redox-Homöostase

Vermeidung von schädlichem Wasserstoffperoxid als Nebenprodukt.

Das GULO-Enzym produziert Wasserstoffperoxid (H2O2) als Nebenprodukt während der Vitamin-C-Synthese. H2O2 ist eine reaktive Sauerstoffspezies (ROS), die in hohen Konzentrationen potenziell toxisch sein kann. Der Verlust der GULO-Aktivität würde diese endogene H2O2-Quelle eliminieren, was potenziell die zelluläre Redox-Homöostase verbessern und oxidativen Stress reduzieren könnte. Dies könnte als eine "Sicherheitsmaßnahme" betrachtet werden.

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Ascorbat & Fertilität

Selektionsdruck begünstigte reproduktivere Individuen bei Vitamin-C-Knappheit.

Diese Hypothese legt nahe, dass ältere Individuen möglicherweise mehr Vitamin C benötigen als jüngere. In Zeiten des Vitamin-C-Mangels wären ältere, weniger reproduktive Individuen wahrscheinlicher gestorben, während jüngere, fittere Individuen überleben und sich erfolgreicher fortpflanzen würden. Dies könnte einen Selektionsvorteil für die Art durch Begünstigung der reproduktiven Fitness geboten haben.

Freie-Radikale-Hypothese

Erhöhte DNA-Oxidation könnte Anpassung beschleunigt haben.

Diese Hypothese, die von Challem und Taylor (1998) postuliert wurde, legt nahe, dass ein Retrovirus und nicht eine Mutation GULO inaktivierte. Die daraus resultierenden verringerten Ascorbatkonzentrationen würden zu einer erhöhten Generierung und Akkumulation von Radikalen führen, die die DNA angreifen. Diese erhöhte DNA-Oxidation könnte zu einer höheren Rate der molekularen Evolution führen und somit eine schnellere Anpassung an Umweltveränderungen ermöglichen.

🌡️

Blutdruck & Umweltstress

Möglicher Überlebensvorteil durch Blutdruckregulation.

Ein Vorschlag ist, dass die GULO-Mutationen einen Überlebensvorteil geboten haben könnten, indem sie zur Aufrechterhaltung des Blutdrucks während Perioden diätetischer Veränderungen und Umweltstress beitrugen.

📈

Harnsäure & Fructose-Effekte

Erhöhte Harnsäure und verstärkte Fructose-Effekte zur Energiespeicherung.

Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass die GULOP-Pseudogenmutation, durch das Stoppen der GULO-Produktion, frühen Primaten zugutegekommen sein könnte, indem sie die Harnsäurespiegel erhöhte und die Fructose-Effekte auf Gewichtszunahme und Fettansammlung verstärkte. Dies könnte vorteilhaft für die Energiespeicherung gewesen sein.

Vom Verlust zum Gewinn: Der Glut-1 Vorteil

Eine der faszinierendsten Anpassungen ist der Glukosetransporter 1 (Glut-1). Er ermöglicht unseren roten Blutkörperchen, verbrauchtes Vitamin C (DHA) extrem effizient zu recyceln.

Dieser Mechanismus ist so wirksam, dass er unseren täglichen Bedarf drastisch senkt. Was als Nachteil begann, könnte durch diese clevere Anpassung zu einem Überlebensvorteil in Zeiten knapper Nahrung geworden sein.

Unser Erbe: Eine tägliche Notwendigkeit

Dieses evolutionäre Erbe prägt unsere Gesundheit bis heute. Wir können Vitamin C kaum speichern und sind auf eine konstante Zufuhr über die Nahrung angewiesen, um gesund zu bleiben.

~1,5 g

Gesamter Vitamin-C-Speicher im menschlichen Körper.

~3%

Täglicher Verlust des Speichers, der ersetzt werden muss, um Skorbut zu vermeiden.